von Jochen Plikat
Wissensarbeit scheint dann besonders gut zu funktionieren, wenn man sich zuverlässig in den so genannten Flow-Zustand bringen kann: Phasen der Versenkung in eine Tätigkeit, in denen jede Ablenkung ausgeblendet wird und die Stunden in kreativem Schaffen unbemerkt verrinnen. Schriftsteller, so könnte man meinen, sollten diesen Zustand besonders leicht erreichen. Der Drang, das literarische Werk zu Papier zu bringen, ist doch sicher so groß, dass sie sich morgens mit Elan an ihr Werk setzen, den ganzen Tag über der Inspiration freien Lauf lassen und erst wieder von ihrem Manuskript aufschauen, wenn der Mond hoch am Himmel steht.
Eine schöne Geschichte, die aber mit der Wirklichkeit wenig zu tun hat. Gerade unter Schriftstellern scheint die Versuchung, dem (manchmal mühsamen) Prozess des Schreibens auszuweichen und sich stattdessen abzulenken, ein gut bekanntes Phänomen zu sein. Raymond Chandler, der in Zeiten lebte, als Romane noch auf Olivetti-Schreibmaschinen entstanden, verordnete sich deswegen die eiserne Regel, mindestens 4 Stunden pro Tag zu schreiben. Auch Nichtstun erlaubte er sich in diesen Phasen – aber nichts anderes. Also: keine Briefe beantworten, keine Anrufe erledigen, keine Zeitung lesen. Schreiben oder nichts. Sein Kalkül war, dass er zwar mit Nichtstun der Arbeit aus dem Weg gehen konnte, dass ihn das aber ziemlich schnell langweilen würde und er stattdessen lieber weiter schreiben würde. Wie die zahlreichen Philip Marlowe-Romane und -Geschichten belegen, hat die selbst auferlegte Regel gut funktioniert. Man kann spekulieren, ob Chandler sie öfter gebrochen hätte, wenn er statt an einer Olivetti an einem Laptop mit Internetanschluss gearbeitet hätte. Vielleicht hätte Philip Marlowe dann nie das Licht der Welt erblickt und wir müssten heute einen legendären Privatdetektiv missen.
Ähnlich wie Chandler scheinen auch manche zeitgenössische Autoren ihre Anfälligkeit für Ablenkungen sehr genau zu kennen. Im Gegensatz zu ihm müssen sie aber nicht nur vergleichsweise unaufdringlichen Medien wie Briefen und Zeitungen widerstehen. Sie haben es mit einem aufgeregt blinkenden medialen Schlaraffenland zu tun, das sie permanent vom manchmal trockenen täglichen Brot des Schreibens wegzulocken versucht. Manche setzen deswegen auf drastischere Mittel als ihre nackte Willenskraft. Jonathan Franzen etwa berichtete dem Time Magazine einmal, er habe seinen Roman Freedom auf einem antiquierten Laptop geschrieben, dem er jede Chance auf eine Verbindung mit dem Internet nahm: er operierte ihm die Netzwerkkarte heraus und zerstörte seine LAN-Buchse mit Klebstoff.
Man kann das als freiwillige Selbstkontrolle bezeichnen, was allerdings nach meinem Empfinden zu sehr nach Jugendschutz klingt. Ich nenne das bewusste Ausblenden der digitalen Reizflut deshalb lieber das Odysseus-Prinzip.* Chandlers eiserne Regel und Franzens amputierter Laptop: Masten, an denen man sich selbst festbindet, um sich vor den vielfältigen Sirenengesängen des Alltags zu schützen und an seinem wichtigsten Projekt zu arbeiten.
Die originellste Bezeichnung für eine selbst verordnete, temporäre digitale Diät ist aber eine andere: Self-Franzenation.
Mit welchen Tricks blendest Du Ablenkungen aus? Hinterlass einen Kommentar!
Bildnachweis: This was the story of Hurricane by Ulisse Albiati on flickr.com (creative commons-Lizenz, bestimmte Rechte vorbehalten: CC BY-SA 2.0)
*Wie es nicht anders sein konnte, gibt es bereits ein Buch mit diesem Titel. Dort ist damit aber nicht die hier beschriebene Selbstkontrolle, sondern ein teamorientierter Führungsstil gemeint.
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