Der Soziologe Niklas Luhmann hat sein wissenschaftliches Werk mit Hilfe eines Zettelkastens geschrieben. Wie lässt sich dieses Werkzeug in einer digitalen Umgebung einsetzen?
Der 1998 verstorbene Soziologe Niklas Luhmann hat ein beeindruckendes wissenschaftliches Werk hinterlassen. Bei der täglichen Arbeit verwendete er einfache Zettel, auf die er alle wichtigen Gedanken notierte. Diese Zettel sortierte er nach einem ausgeklügelten System in einen Zettelkasten ein, den er über Jahrzehnte pflegte und der so zu einem erstaunlichen Umfang anwuchs.
In folgender Reportage erklärt Luhmann ab Minute 37:40 kurz den Zettelkasten und erlaubt einen Blick in sein Arbeitszimmer:
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Neben der stetig wachsenden Zahl der Zettel war das interne Verweissystem entscheidend, mit dem Luhmann sie miteinander verknüpfte. Durch dieses Verweissystem entwickelten die gesammelten Gedanken ein Eigenleben und fingen an, miteinander zu „kommunizieren“. Das externe Gedächtnis, als das der Zettelkasten zunächst diente, wurde für Luhmann so im Laufe der Jahre zu einem immer leistungsfähigeren „Kommunikationspartner“:
Als Ergebnis längerer Arbeit mit dieser Technik entsteht eine Art Zweitgedächtnis, ein Alter ego, mit dem man laufend kommunizieren kann. Es weist, darin dem eigenen Gedächtnis ähnlich, keine durchkonstruierte Gesamtordnung auf, auch keine Hierarchie und erst recht keine lineare Struktur wie ein Buch. Eben dadurch gewinnt es ein von seinem Autor unabhängiges Eigenleben. Die Gesamtheit der Notizen läßt sich nur als Unordnung beschreiben, immerhin aber als Unordnung mit nicht-beliebiger interner Struktur. […] Natürlich setzt Selbständigkeit ein Mindestmaß an Eigenkomplexität voraus. Der Zettelkasten braucht einige Jahre, um genügend kritische Masse zu gewinnen. Bis dahin arbeitet er nur als Behälter, aus dem man das herausholt, was man hineingetan hat. Mit zunehmender Größe und Komplexität wird dies anders.
Quelle: Luhmann, Niklas (1992): „Kommunikation mit Zettelkästen“. In: Luhmann, Niklas & Kieserling, André (Hrsg.) Universität als Milieu. Bielefeld: Haux, 57f.
Die „nicht-beliebige interne Struktur“, von der Luhmann in schönem Systemtheoretiker-Sound schreibt, entsteht durch eine geschickte Verschlagwortung. Sie ermöglicht Verweise quer durch den Zettelkasten hindurch, so dass bei längerer Arbeit mit diesem System ein immer dichter werdendes Bedeutungsnetz entsteht. Nur als über einen langen Zeitraum gepflegte Sammlung geschickt vernetzter Gedanken kann der Zettelkasten somit das Potential entfalten, um das es Luhmann geht. Dieses besteht einerseits darin, dass man zuverlässig auf abgelegte Gedanken wieder zugreifen kann. Andererseits können die im externen Gedächtnis abgelegten Gedanken neu verknüpft und so zu neuen Ideen weiterentwickelt werden.
Wie lässt sich das Zettelkasten-Prinzip nun auf die Anforderungen und Möglichkeiten des digitalen Zeitalters übertragen, und welche Vorteile könnten sich daraus ergeben? Ein Programm, das sich hervorragend als digitaler Zettelkasten eignet, ist Evernote. Einige Vorteile von digitalen Evernote-Notizen im Vergleich zu ihren analogen Vorbildern liegen auf der Hand: man kann sie über mehrere Geräte synchronisieren; man kann sie in der Cloud sichern; man kann beliebige Dateien an sie anhängen; man kann sie zu Notizbüchern und Sub-Notizbüchern bündeln (siehe auch hier).
Es sind aber noch einige weitere Funktionen des Programms hervorzuheben. Diese sind besonders für seinen Einsatz als Luhmann’scher Zettelkasten vielversprechend:
- Volltextsuche: Alle Notizen lassen sich vollständig durchsuchen. In der Bezahlversion gilt das sogar für Anhänge, selbst wenn es sich dabei um eingescannte handschriftliche Notizen handelt.
- Verlinkung: Notizen können untereinander fest verlinkt werden. Ein Link bleibt auch dann erhalten, wenn die Notiz, auf die er verweist, in ein anderes Notizbuch verschoben oder wenn sie umbenannt wird.
- Schlagwörter: Jede Notiz kann mit einem oder mehreren Schlägwörtern versehen werden.
- Kontext: Die neue „Context“-Funktion blendet zu jeder Notiz automatisch weitere Notizen ein, zu denen das Programm einen inhaltlichen Zusammenhang erkennt.
- Mobilität: Mit digitalen Notizen lässt sich überall arbeiten. Mit einem analogen Zettelkasten ist man dagegen an einen Ort gebunden, sobald er eine bestimmte Größe erreicht hat.
Auch bei einem digitalen Zettelkasten sind jedoch zwei Dinge entscheidend: Er benötigt sowohl einen gewissen Umfang als auch eine gewisse innere Komplexität, um sein Potential zu entfalten. Mein eigener digitaler Zettelkasten hat seinen Betrieb erst vor gut anderthalb Jahren aufgenommen und dient mir deswegen im Moment vor allem als externes Gedächtnis. In spätestens 15-20 Jahren sollte er aber anfangen, eigene Ideen auszuspucken.
Ich melde mich, wenn es soweit ist.
Wie sammelst, verwaltest und verknüpfst Du Deine Ideen? Hinterlass einen Kommentar!
Update 10.5.2016: Einen weiteren ausführlichen Beitrag zum Thema findest Du hier.
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Hier eine Sammlung weiterführender Links zum Thema Zettelkasten.
Bildnachweis: I have an idea @ home by Julian Santacruz on flickr.com (creative commons-Lizenz, bestimmte Rechte vorbehalten: CC BY 2.0). Homepage des Fotografen: www.juliansantacruz.com
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