Gläserne Schüler, gläserne Bürger

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von Jochen Plikat

Wie wäre es eigentlich, die Schule komplett zu digitalisieren? Wäre es nicht wunderbar, alles, was bisher (weitgehend) papiergestützt ablief, zukünftig mit Laptops, Tablets und Smartphones erledigen und über das Internet synchronisieren zu können? In der Schule fallen schließlich eine Menge Daten an, die doch allen Beteiligten möglichst jederzeit zur Verfügung stehen sollten.

Eine Aufstellung der wichtigsten dieser Daten sieht etwa wie folgt aus. Ich habe sie so aufgeschlüsselt, dass deutlich wird, wer sie jeweils erzeugt — wer also was „schreibt“:

Schulleitung und Lehrkräfte:

  • Stundenpläne
  • schulinterne Curricula
  • geplante Inhalte der einzelnen Unterrichtsstunden
  • tatsächliche Inhalte der einzelnen Unterrichtsstunden
  • Unterrichtsmaterialien (Texte, Aufgabenblätter, usw.)
  • Hausaufgaben
  • Termine für Klassenarbeiten
  • vorzubereitende Inhalte für Klassenarbeiten
  • Tests, Klassenarbeiten, Klausuren
  • Korrekturen von Tests, Klassenarbeiten und Klausuren inkl. Feedback für jeden Schüler/jede Schülerin
  • Anwesenheitslisten
  • Erziehungs- und Ordnungsmaßnahmen (z.B. Klassenbucheinträge, schriftlicher Tadel)
  • organisatorische Infos (Elternabende, Klassenfahrten, usw.)
  • Noten und Zeugnisse

Schüler:

  • Mitschriften
  • im Unterricht bearbeitete Aufgaben
  • Hausaufgaben
  • Portfolios
  • Tests, Klassenarbeiten, Klausuren

Eltern:

  • Dokumentation, dass der Lernfortschritt zur Kenntnis genommen wurde (z.B. Unterschriften unter Hausaufgaben, Tests und Zeugnisse)
  • Dokumentation, dass Erziehungs- und Ordnungsmaßnahmen zur Kenntnis genommen wurden

Auch die darüber hinaus anfallende Kommunikation zwischen Schulleitung, Lehrkräften, Schülern und Eltern könnte zumindest teilweise über eine entsprechende digitale Plattform abgewickelt werden.

Wie es scheint, hat der EU-Partner Estland diesen Weg bereits beschritten. Im Rahmen einer groß angelegten Initiative zur Digitalisierung aller relevanten gesellschaftlichen Bereiche („Tigersprung“, estnisch „Tiigrihüpe“) können Schulen seit 2002 eine Plattform für so genanntes e-Schooling in der beschriebenen Weise verwenden. Stolz wird auf einer Webseite verkündet, dass schon 85 % der estnischen Schulen von dieser Möglichkeit Gebrauch machen, was 95% der Schüler betrifft.

Viele der oben genannten Daten werden dabei bereits jetzt in die digitale Plattform eingespeist. Eltern erhalten beispielsweise in Echtzeit eine Nachricht auf ihr Smartphone, wenn ihr Kind nicht zum Unterricht erscheint. Außerdem können sie jederzeit einsehen, welche Hausaufgaben ihre Kinder erledigen müssen — und ob das schon geschehen ist. In einem Video, das für die Vorzüge von e-Schooling wirbt, wird betont, dass Eltern jetzt wirklich wissen, wie es um die Lernerfolge ihrer Kinder steht. („They can see the real picture how the child is doing in class.“)

Auch für Lehrkräfte scheint das elektronische System von Vorteil, etwa was die Planung und Dokumentation von Unterricht betrifft („More efficient organization and record keeping for teachers“).

Für die Schulverwaltung hat e-Schooling selbstverständlich ebenfalls Vorteile: „Preschools, schools and universities programms and activity is being managed, controlled and regulated centrally by the Ministry of Education via e-solution, called EHIS.“

Man mag es für ein dringendes Anliegen von Schule halten, den Unterricht „effizienter“ zu gestalten. Man mag es als Fortschritt ansehen, wenn Lehrkräfte Eltern eine sms schicken können, anstatt mit ihnen zu sprechen. Man mag es für einen Durchbruch halten, wenn kranke Schüler online einsehen können, welche Hausaufgaben zu erledigen sind, und dafür keinen Klassenkameraden mehr anrufen müssen.

Diesen Vorteilen (für die erst einmal zu belegen wäre, inwiefern es tatsächlich Vorteile sind) sollten aber auch die möglichen Nachteile gegenübergestellt werden. Mir persönlich rollen sich die Fußnägel auf, wenn ich an das Maß an gegenseitiger Kontrolle und Überwachung denke, das diese Digitalisierung ermöglicht. Am schlimmsten finde ich diese Überwachung in Bezug auf die Kinder und Jugendlichen, um deren Wohl es angeblich geht. Der Freiraum für intellektuelles und persönliches Reifen, der Schule sein kann — meiner Überzeugung nach sein muss —, wird aufgegeben, um ständige Überwachung und Kontrolle Betreuung zu ermöglichen.

Die vollständige digitale Erfassung von Schule kann man als Ausdruck einer Ideologie sehen, die Lernen und Bildung in Analogie zu den Produktionsabläufen einer Fabrik für von A bis Z planbar, messbar und steuerbar hält. Digitale Medien, die geradezu unglaubliche Freiheiten ermöglichen, können so zum Instrument des exakten Gegenteils werden. Ich sehe die Gefahr, dass sich die Schüler durch e-Schooling und ähnliche Initiativen von klein auf an das Gefühl gewöhnen, dass Eltern und Lehrer permanent über ihre Handlungen, ja ihre Gedanken wachen. Wer könnte auch etwas dagegen einzuwenden haben. Sie meinen es ja nur gut!

An die Stelle der Eltern und der Schule können dann später staatliche Institutionen treten, die bestimmt ebenso überzeugt sind, es doch nur gut zu meinen. An die flächendeckende Überwachung ihrer digitalen Kommunikation dürfte sich die elektronisch beschulte Generation dann schon gewöhnt haben („…raising a future generation that will be more capable and tech-savvy than ever.“).

Ein wenig Hoffnung gibt mir der Glaube an den subversiven Einfallsreichtum der Jugend. Ich bin sicher, dass in estnischsprachigen Internet-Foren Anleitungen zu finden sind, wie man als Schüler e-Schooling austrickst. Vielleicht wundern sich estnische Lehrer ja schon heute manchmal darüber, dass im System auf rätselhafte Weise Fehlzeiten gelöscht, Noten verbessert oder Schultage verkürzt werden.

Wie stehst Du zur Frage der Digitalisierung von Schule? Hinterlass einen Kommentar!

Bildnachweis: data.path Ryoji.Ikeda – 4 by r2hox on flickr.com (creative commons-Lizenz, bestimmte Rechte vorbehalten: CC BY-SA 2.0)

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0 Gedanken zu “Gläserne Schüler, gläserne Bürger

  1. Hi Jochen,

    ich sehe es wie immer – hoffentlich! – differenziert! Was spricht dagegen, Abwesenheitsmeldungen per – signierte! – Mail oder das Intranet zu ermöglichen? Schon mal versucht 7:45h bis 8:00h die gelangweilte Sekretärin zu erreichen, um durch zugeben, dass Dein Sohn Bauchweh hat?

    Selbst bei Elternabenden habe ich mir schon überlegt, ob es nicht hilfreich gewesen wäre, Vorschläge zur Agenda vorher einzureichen, um das Gelaber zu verkürzen bzw. wie in jeder Gruppe den Wichtigtuern etwas Redezeit wegzunehmen.

    Für mich hat das Schriftliche generell den Vorteil, dass man a) unbeeinflusster schreiben kann und b) seine Gedanken klar ausformulieren muss. Na gut, es könnte peinlich sein, als Elternteil zu offenbaren, wie wenig man der deutschen Sprache mächtig ist.

    Im Grunde ist es wie mit allen Medien. Jeder Appell, doch mal wieder mehr miteinander zu reden, wieder mehr zu analoger Kommunikation zurück zu kehren, ist immer richtig und doch kann das “digitale” Zusatzangebot durchaus Sinn machen – sagt der Facebookverächter! 😉

    Gruß, Martin

    1. Ja, klar, digitale Zusatzangebote können sinnvoll sein, keine Frage! Ich arbeite z.B. in meinen Seminaren seit Jahren mit moodle und möchte definitiv nicht zum klassischen Seminarordner mit seinen abgegriffenen und unvollständigen Kopiervorlagen zurück. Die Schulen, in denen ich gearbeitet habe, fand ich zum Teil erstaunlich Low-Tech. Da wurden mögliche Vorzüge von digitalen Lösungen überhaupt nicht genutzt. Dazu gehört mit Sicherheit auch bessere Erreichbarkeit, z.B. für Krankmeldungen. Ich kenne die estnische Lösung nicht aus der Praxis, vielleicht ist e-Schooling ja sinnvoll. Ich finde man muss bei einer Frage mit so weitreichenden Konsequenzen aber wirklich sehr, sehr gut zwischen Vor- und Nachteilen abwägen. Bei vielen Entscheidungen im Bildungsbereich weiß ich, dass da oft keine Debatte stattfindet, sondern einfach politisch eine Marschrichtung vorgegeben wird, an die sich dann alle zu halten haben.

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